Zum Symposion «So hat Gott die Welt geliebt» am 12. September 2020
Ohne dass dies so abgesprochen war, griffen die drei Vorträge erstaunlich direkt ineinander und zeichneten ein Bild von der Herkunft und von der Gefährdung unserer Zivilisation, das sehr anders ist als das, was die etablierten Verstehensmuster suggerieren.
Hier erlaube ich mir einen ersten Versuch, den Gehalt der drei Vorträge so zu akzentuieren und aufeinander zu beziehen, dass sich daraus eine einfache, provozierende Erkenntnis gewinnen lässt: Die geisteswissenschaftlich gedeuteten Errungenschaften der naturwissenschaftlichen Forschung reduzieren den Horizont des Lebens auf eine innerweltliche Immanenz, so dass nun ein «schönes Wohnen» die Qualitäten des heiligen Zeltes im Privaten zu realisieren versucht.
In einem grossen Durchgang durch die Geschichte des naturwissenschaftlichen Denkens legte Werner Däppen offen: Es war keineswegs so, dass die naturwissenschaftlichen Forscher sich vom Glauben und von der Kirche befreien mussten. Das Gegenteil war der Fall! Die meisten von ihnen waren (in der einen oder andere Weise) gläubig. Nur weil sie darauf vertrauten, dass die Welt gut geordnet und schön gefügt ist, fanden sie die Leidenschaft und Kraft, die nötig waren, um mit ihrem bewundernswert langen Atem sorgfältig zu beobachten, die Zahlen und Fakten zu ordnen und wieder und wieder durch hoch komplexe Rechnungen zu gehen, bis sich ihnen schliesslich die stimmige Ordnung und die gesuchte einfache Formel offenbarten.
Es waren nicht die Naturwissenschaftler, sondern die Geisteswissenschaftler, die Philosophen und Dichter, die aus den neuen Erkenntnissen schlagkräftige Argumente gegen den Glauben und die Kirche formten. Sie setzten die Geschichte in Umlauf, dass die Naturwissenschaft sich vom Glauben hatte frei machen müssen. Anmders gesagt: Die modernen Dichter und Denker haben die Erfolge der Naturwissenschaft gekapert und missbrauchen sie für ihre deutungen der Welt, die den Glauben an Gott verdrängen oder diffamieren.
Dem Philosoph und Medienwissenschaftler Norbert Bolz war von den Berliner Behörden eine Quarantäne verordnet worden, so dass er nur über das Internet aus seinem Garten zu den Versammelten in der Hundwiler Kirche sprechen konnte.
Er nahm sie mit auf den Weg des philosophschen und theologischen Denkens der letzten Jahrhunderte und zeichnete nach, wie Heideggers Entdeckung, dass sich die Wahrheit nicht begrifflich, sondern nur personal fassen lässt, den Zugang zum Sein – und das heisst: zur wahren Nächstenliebe freilegt. Diese ist kein Gefühl, sie ist kein Altruismus (das «Gutmenschentum» ist das Gegenteil von ihr), sie ist auch nicht die Liebe zu sich selbst im andern (der ich nur zufällig nicht selber bin), sie ist die Liebe zum Feind, präzise verstanden: Die Liebe zum Rivalen (Matthäus 5,44: echtros/inimicus – nicht polemos/hostis). Ihre Voraussetzung ist die Vergebung, die ihre Wurzel hat in dem Schuldopfer, das die beiden Ziegenböcke des alttestamentlichen Versöhnungstages, den geschlachteten und den in die Wüste getriebenen, in sich vereint: Sie liebt den andern um Gottes willen, in Christus.
Wenn nun das moderne Denken und Empfinden den Bezug zur Transzendenz verliert und ihm nur noch das Weltimmanente bleibt, verkehrt sich die Liebe zum Götzendienst an der Menschheit. Friedrich Nietzsche prägt das erhellende Wort von der «Umwertung aller Werte», mit dem er die Lehre des Apostels Paulus konterkarriert, und legt offen: Das Goldene Kalb, um das die von Christus Emanzipierten tanzen, ist der abstrakte Mensch. Wie die Psychiater müssten auch die Theologen wissen: Man liebt die Menschheit, um Gott zu entrinnen. Das macht den Gedanken an den Antichristen unausweichlich: Denn dieser kommt ja, um Christus zu verdrängen.
Das Architektenpaar Anna und Ingemar Jessen Vollenweider nahm die Versammelten mit vielen Bildern mit auf einen Weg durch die Architekturgeschichte, an deren Anfang die Abgrenzung eines Raums steht. Dabei geht es um die Form, die das Miteinander erst möglich macht. Sie findet sich nicht in frei konstruierten Objekten, sondern erwächst – wenn man Bezug auf das Bibelwort nehmen will – aus dem liebevollen Weiterbauen auf der Grundlage dessen, was vorangehende Generationen geschaffen und wieder abgetragen haben. Weit weniger als man denken könnte verdankt sich der Planung, weit mehr dem In- und Miteinander unterschiedlicher Interessen, Erkenntnisse und Gestaltungsabsichten.
In der Architektur ist die Geschichtsvergessenheit überwunden, noch nicht aber die Gottvergessenheit. Die Stiftshüttes, die 2.Mose 25ff. derart lesehemmend detailliert beschrieben wird (wie kein anderes Bauwerk aus ähnlich weit zurückligender Zeit), kommt in den Lehrbüchern und Lehrveranstaltungen nicht vor. Der biblische Baubeschrieb enthält aber ziemlich umfassend, was die «Bibel der Architekten», die Normen des Vereins Schweizerischen Ingenieure und Architekten SIA für einen Planungs- und Bauprozess vorgeben: Bauherrschaft, Finanzierung, Baubeschrieb, Arbeitsvergabung, Beschreibung der zu verwendenden Materialien bis zur letzten Schraube. So gelesen stehen die Kapitel zur Stiftshütte, die auch in der zeitgenössischen Theologie keine Rolle spielen, für die verdrängte Tatsache, dass die Liebe nach der ihr angemessenen Form und Materialisierung sucht. Bezeichnenderweise kann man ein Wissen um die Stiftshütte und den Versuch, etwas von ihrer Qualität zu vergegenwärtigen, inkognito im Werk des (mit Romano Guardini befreundeten) Architekten Mies van der Rohe finden. Allgemein aber lässt sich feststellen, dass das Bemühen um die Form, die dem Leben Würde und Schönheit verleiht, in das Private «Schöner Wohnen» verlagert. Die modernen Menschen sind nicht mehr auf der Wanderschaft durch die Zeit, in der sie nur Zelte bewohnen. Sie hausen in einer Welt, die kein Ausserhalb mehr kennt, und erwarten, dass die Kunst der Handwerker und Architekten ihren Pavillons, Appartements und Villen einen Glanz von Heiligkeit verleiht.
Bernhard Rothen