4.2 Die beiden Schöpfungsgeschichten

Raum und Zeit

Am Anfang der Bibel erklingt mit majestätischer Ruhe und kindlicher Klarheit die Botschaft: Gott hat Himmel und Erde gut erschaffen! Die Welt und wir Menschen sind kein Zufallsprodukt. Gott hat sich ein Werk nach dem anderen vorgenommen, er hat mit klaren Worten befohlen und hat selber Hand angelegt: Mit viel Liebe hat er alles so gemacht, dass wir Menschen einen schön zubereiteten Raum und eine wohl geordnete Zeit zum Leben haben.

Nirgendwo in der Welt finden wir sonst einen so reichen, nüchternen, vielschich­tigen und in den Details präzisen Text über die Entstehung der Welt. Die Formu­lierungen sind so einfach, dass viele gar nicht genau lesen. Selbstsicher meinen sie, sie wüssten es besser, und denken nicht weiter über diese Botschaft nach.

Die Fachleute aber stellen fest: Es sind zwei Geschichten. Sie haben einen je anderen Ton. Und sie widersprechen sich in der «Chronologie», im äusseren Ablauf. Die Bibel ist klüger als die klügsten Denker. Sie erzählt von der Schöpfung in unterschiedlichen Perspektiven. Denn niemand kann von der Entstehung des Lebens so Bericht geben, dass die Menschen es sich vorstellen können. Sonst müsste unsere Vorstellungskraft stärker sein als das, was der Schöpfer gewollt und gemacht hat.

Wir Menschen können reden, denken und verstehen nur im Rahmen der Zeit. Was vor der Zeit war und was über ihr ist, kann kein menschlicher Gedanke fassen. Was war «damals», als es noch kein «Damals» gab?, fragt Aurelius Augustin, der grosse Lehrer der Christenheit. Wie ist die Zeit entstanden, die doch da sein muss, bevor etwas entstehen kann?

Das verlorene Paradies

Viele Urvölker erzählen von einer paradiesischen Zeit, in der es die Mühsal des Lebens und die Schmerzen des Todes nicht gab. Die heiligen Schriften Israels erzählen anders noch von der verlorenen Unschuld: «Adam», der Mensch, ist von der «Adamah», vom Ackerboden genommen. Wir leben Tag für Tag von dem, was der Erdboden uns gibt. Dazu ist dem Menschen die Fähigkeit gegeben, die Erde und ihre Lebewesen zu beherrschen. Kein Tier kann ihm darum Partner sein. Gott macht aus Adam die Frau («Ischah»), die dem Mann (hebräisch «Isch») Heimat, Freude und Ehre gibt. So schenkt der Schöpfer jeder neuen Generation einen neuen Anfang.

Doch die Menschen haben einem falschen Versprechen Glauben geschenkt: Durch das blosse Wissen wollen sie werden wie Gott. Sie meinen, es sei gottgleich, wenn sie von oben herab darüber urteilen, was gut und was böse sei. Sogar über Gott fällen sie ihre Urteile. So kommen sie immer weiter weg von ihrem Schöpfer. Denn Gott will nicht nur wissen. Er will lieben. Und will auch uns die Zeit geben, dass wir das lernen: So zu lieben, wie er liebt.

Darum hat Gott uns auferlegt, dass wir das Leben erhalten und weitergeben können nur mit Mühsal, Schmerzen und Kummer. Wir müssen es wagen, das Vertraute zu verlassen, uns für das ganze Leben zu binden und unsere Kräfte zu verbrauchen. Und am Ende müssen wir sterben. Wir sollen nicht für immer betrogen sein. Wir sollen lernen, wahrhaft zu lieben: Nicht mit Urteilen aus sicherer Distanz, sondern mit leibhaftiger Mühe und Lust.

 

2_2_embrio_neu  2_2-Kinderbegräbnis

Anfang und Ende des menschlichen Lebens